Montag, 13. November 2023

Was definiert Alter und wie wirken Raum und Zeit auf den Alterungsprozess?

Alter(n) mit KI-Sturzsensoren - ein Konstrukt aus Raum, Zeit und Materie. Die beiden Altersforscherinnen Vera Gallistl-Kassing vom KL Fachbereich Gerontologie und Anna Wanka von der Goethe Universität Frankfurt analysieren Daten zu Erfahrungen im Umgang mit algorithmus-basierten Sturzsensoren in Langzeitpflegeeinrichtungen in Österreich. Ihre Daten reflektieren sie vor dem Hintergrund materiell-gerontologischer Theorien, um ein tieferes Verständnis von Altern in Zusammenspiel mit künstlicher Intelligenz zu gewinnen.

Wie funktionieren Sturzdetektoren im Alltag der Pflege?

Um Daten zu den Erfahrungen mit dem Einsatz von algorithmus-basierten Sturzsensoren zu generieren, wurden im Projekt ALGOCARE qualitative Interviews mit Programmierer:innen und Entwickler:innen von Sturzsensoren, sowie Pfleger:innen und älteren Pflegeheimbewohner:innen geführt. Gleichzeitig wurde teilnehmende Beobachtungen in Pflegeheimen in Österreich durchgeführt, die aktuell KI-basierte Sturzsensoren einsetzen. Ergänzend wurden im Projekt zwei Interviews mit Expert:innen einer Organisation, die die Rechte von Menschen in institutionellen Wohneinrichtungen vertritt, geführt. Diese multi-perspektivische Vorgehensweise diente dazu, einen möglichst umfassenden Blick auf die Erfahrungen der Praxis mit KI-Systemen in der Pflege zu generieren.  Analysiert wurden die so erhobenen Daten einerseits mit der Situationsanalyse, andererseits mit dem Konzept des „Spacetimematter“, das von Karen Barad entwickelt wurde. 

Algorithmen und ihr Einfluss auf Altern

Sturzsensoren werden entwickelt, um Stürze im Pflegeheim frühestmöglich zu detektieren. Das Training des Algorithmus, der auf Basis der erhaltenen Sensordaten zwischen Sturz und “Kein-Sturz” unterscheiden können soll, war ein zentrales Anliegen von Entwickler:innen. Gleichzeitig wurde in den Interviews problematisiert, dass es aktuell kaum verlässliche (Bild-)Daten zu Stürzen von älteren Menschen gibt, auf deren Basis Algorithmen trainiert werden können. Das Training des Algorithmus musste so teilweise anhand von künstlich generierten Daten stattfinden, die die komplexen Lebenssituationen älterer Menschen in Pflegeeinrichtungen nur unzureichend abbildeten. Zusätzlich zeigen die Interviews, dass eine solche Vorgehensweise zu vielen Fehlalarmen im Pflegealltag führt, die nachhaltigen Einfluss auf die täglichen Routinen des Pflegepersonals und der Bewohner:innen nehmen. 

Materielles Verständnis von Altern durch den Spacetimematter-Ansatz

Das Konzept “Spacetimematter” (Karen Barad) geht davon aus, dass Altern nicht rein als biologischer und individueller Prozess verstanden kann, der sich im Körper vollzieht, sondern als multidimensionales Geschehen, das im Zusammenspiel zwischen älteren Körpern, neuen Technologien und räumlichen Umwelten zu Stande kommt, zu verstehen ist. Ein solcher Blick auf „verteilte Altersprozesse“ macht es möglich, Alter(n) nicht ausschließlich als defizitär zu verorten, sondern die Dynamik und Heterogenität des Alter(n)sprozesses zu verstehen.  Alter definiert sich nicht nur aus dem zeitlichen Abstand vom “Jetzt” zum Zeitpunkt der Geburt, sondern wird einerseits von institutionellen Lebensabschnitten wie Schule, Arbeit und Pension bestimmt und muss andererseits in Abhängigkeit von Raum und Materie gesehen werden. Durch einen solchen Blick auf das Spacetimematter des Alter(n)s ergeben sich neue Perspektiven auf die beschriebenen Ergebnisse zum Einsatz von KI-Sturzsensoren in der Pflege: Durch den Einsatz des zu trainierenden Algorithmus werden Menschen in einer fortgeschrittenen Lebensphase mit einer noch in der Entwicklung und damit mit einer in den Kinderschuhen steckenden Technologie konfrontiert. Auf Basis dieser Alterszuschreibungen werden von den Bewohner:innen als auch vom KI-System bestimmte Verhaltensweisen erwartet bzw. werden ihnen bestimmte Stereotype zugeschrieben. 

Die Originalarbeit zeigt so auf, dass ein materielles Verständnis vom Älterwerden, das den der Prozess des Alterns im Zusammenspiel mit Technologien betrachtet, ein breites und neues Feld für die Alter(n)sforschung eröffnet, besonders im Bereich der künstlichen Intelligenz. 

Originalarbeit

Der WWTV und das Land Niederösterreich unterstützten die Forschungsarbeit von Dr. Vera Gallsitl-Kassing BA MA. Die Publikation ist frei zugänglich im Journal of Aging Studies erschienen. 

Gallistl V, Wanka A. Spacetimematter of aging – The material temporalities of later life. Journal of Aging Studies. 2023 Sept 20;67:101182. doi: 10.1016/j.jaging.2023.101182

Dr. Vera Gallistl-Kassing BA MA

Dr. Vera Gallistl-Kassing BA MA

Wissenschaftliche Mitarbeiterin (PostDoc)
Kompetenzzentrum Gerontologie und Gesundheitsforschung